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Kündigungsschutz durch die „Hintertür“?

van_portraits_840x840px_04_weuthen-1665127648.png Dr. Christopher Weuthen

August 2025

Lesedauer: Min

Präventionsverfahren als Wirksamkeitsvoraussetzung bei Kündigung eines Schwerbehinderten außerhalb des KSchG?

In der betrieblichen Praxis ist das in § 167 Abs. 2 SGB geregelte Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) gut bekannt und bei vielen Arbeitgebern sind feste Prozesse etabliert; Rechtsprechung zu Einzelfragen betreffend das Verfahren gibt es ebenso zahlreich. Dagegen führt das nur einen Absatz darüber normierte Konfliktpräventionsverfahren in der betrieblichen Praxis ein Schattendasein. Die Nichtbeachtung dieses Verfahrens vor Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiters kann sich nach einer aktuellen Gerichtsentscheidung des LAG Köln insbesondere außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG – also in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses oder im Kleinbetrieb – als böse Stolperfalle erweisen.
Was es mit dem Präventionsverfahren auf sich hat, was das Arbeitsgericht und nachfolgend das Landesarbeitsgericht Köln entschieden haben, wie das Bundesarbeitsgericht zu dieser Frage steht und was Sie als Arbeitgeber zukünftig in derartigen Konstellationen berücksichtigen sollten, erläutern wir Ihnen in diesem Blogbeitrag.

Geltungsbereich, Ziel, Inhalt und Ablauf des Präventionsverfahrens

Die Vorschrift zum Präventionsverfahren gilt für schwerbehinderte Mitarbeiter (GdB mindestens 50) ebenso wie für schwerbehinderten gleichgestellte Mitarbeiter (GdB mindestens 30 aber weniger als 50). Ziel des Präventionsverfahrens ist es, Konflikte im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiter frühzeitig zu erkennen, idealerweise abzustellen und so das Arbeitsverhältnis dauerhaft zu erhalten. Da es sich – wie der Name bereits verrät – um ein präventives Verfahren handelt, ist die Eingriffsschwelle bewusst niedrig angesetzt:
Das Präventionsverfahren ist bereits dann einzuleiten und durchzuführen, wenn „Schwierigkeiten“ im Arbeitsverhältnis auftreten. „Schwierigkeiten” sind Unzuträglichkeiten, die gerade noch nicht den Charakter von Kündigungsgründen aufweisen. Im Übrigen ist damit aber die gesamte Bandbreite umfasst, die auch in Bezug auf mögliche Kündigungsgründe in Betracht kommen – von personenbedingten generellen Eignungsmängeln über verhaltensbedingte Gründe wie unentschuldigtes Fehlen und laufendes Zuspätkommen, Tätlichkeiten und sonstige Straftaten mit Bezug zum Arbeitsverhältnis bis hin zu betrieblichen Gründen wie Rationalisierungsmaßnahmen.

Wichtig: Anders als beim BEM braucht es keine Zustimmung des Mitarbeiters zur Einleitung und Durchführung des Präventionsverfahrens.
Im Rahmen des Präventionsverfahrens hat der Arbeitgeber mit – soweit im Betrieb vorhanden – Schwerbehindertenvertretung und Betriebs-/Personalrat als auch mit Dritten (bspw. Integrationsamt, Integrationsfachdienst) Möglichkeiten und Hilfen zur Beratung sowie finanzielle Leistungen seitens der Rehabilitationsträger ernsthaft zu erörtern.

Rechtsfolgen bei Verstoß gegen die Präventionsverpflichtung

§ 167 Abs. 1 SGB IX knüpft keine Rechtsfolge an die Verletzung der Präventionsverpflichtung; insbesondere ist das Präventionsverfahren keine formale Kündigungsvoraussetzung. Im Anwendungsbereich des KSchG kann sich die Missachtung des Präventionsverfahrens vor Kündigung eines schwerbehinderten/gleichgestellten Mitarbeiters aber im Rahmen der Interessenabwägung zum Nachteil des Arbeitgebers auswirken. Außerhalb des Geltungsbereichs des KSchG ist eine Kündigung allerdings nicht auf ihre soziale Rechtfertigung zu prüfen, sodass Fragen der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich keine Relevanz haben.
Bedeutet das, dass Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiters in den ersten sechs Monaten oder im Kleinbetrieb auf die vorherige Durchführung des Präventionsverfahrens verzichten können?

Entscheidungen des ArbG Köln v. 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23 und
des LAG Köln v. 12.09.2024 – 6 SLa 76/24

Nein, jedenfalls, wenn es nach dem Arbeitsgericht Köln und auch der Berufungsinstanz, dem Landesarbeitsgericht Köln geht. Die Begründung dazu liefern beide Gerichte über die im Titel dieses Beitrags erwähnte „Hintertür“:
Auch eine Kündigung außerhalb des KSchG ist darauf zu prüfen, ob sie gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, in diesem Fall gegen das in § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX normierte gesetzliche Verbot der Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung Die Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens soll laut den Kölner Richtern ein Indiz für eine derartige Benachteiligung sein.

Begründung:

  • Der Wortlaut des § 167 Abs. 1 SGB IX sehe keine zeitliche Einschränkung dahingehend vor, dass die Verpflichtung zum Präventionsverfahren erst nach sechs Monaten gelten soll

  • Das Präventionsverfahrens könne gerade in den ersten sechs Monaten sinnvoll sein, um Schwierigkeiten frühzeitig zu identifizieren und das Arbeitsverhältnis mit dem schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiter langfristig zu sichern. Die frühzeitige Geltung dieser Vorschrift diene also gerade dem Gesetzeszweck, schwerbehinderte oder gleichgestellte Menschen gleichberechtigt am Arbeitsleben teilhaben zu lassen

Urteil des BAG v. 03.04.2025 – 2 AZR 178/24

Das letzte Wort in dieser Frage hatte – wie so oft – das Bundesarbeitsgericht:
Das BAG legt die Regelung in § 167 Abs. 1 SGB IX ebenfalls nach Wortlaut und Systematik aus, setzt dabei jedoch andere Schwerpunkte und kommt somit zu dem Ergebnis:
Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, vor einer ordentlichen Kündigung während der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) ein Präventionsverfahren iSd. § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Laut BAG knüpfe der Wortlaut der Vorschrift an die Begrifflichkeiten des KSchG an, indem er von „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“ spreche. Die Vorschrift sei daher Ausdruck des außerhalb des KSchG nicht geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Schließlich begründet das BAG seine abweichende Rechtsauffassung auch mit rein praktischen Erwägungen: Ein Präventionsverfahren sei zeitaufwändig und könne nur dann sinnvoll praktiziert werden, wenn es nicht vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG abgeschlossen sein müsse.

Zusammenfassung und Ausblick

Arbeitgeber können vorerst aufatmen: Jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG wird ein Präventionsverfahren auch zukünftig vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten/gleichgestellten Mitarbeiter nicht erforderlich sein. Besondere Vorsicht ist dennoch geboten, insbesondere wenn Sie Ihren Betriebssitz im Gerichtsbezirk des Arbeitsgerichts bzw. Landesarbeitsgerichts Köln haben. Auch wenn es durch das BAG-Urteil unwahrscheinlicher geworden ist, lässt sich nicht ausschließen, dass die Instanzgerichte in Köln an ihrer abweichenden Rechtsauffassung festhalten. Das würde im Zweifel dann einen langwierigen und teuren Rechtsstreit bis zum BAG bedeuten – sollten Sie also immer schon einmal eine Reise nach Erfurt geplant haben, gibt es sicherlich deutlich preiswertere und angenehmere Optionen.

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