Zuleitungspflicht des Informationsschreibens an die Agentur für Arbeit gewährt keinen Individualschutz für Arbeitnehmer
Fehler des Arbeitgebers bei der Anzeige einer Massenentlassung können nach deutschem Recht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Das steht zwar so nicht im Gesetz, entspricht aber jahrelanger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Ausschlaggebend für die Annahme der Unwirksamkeit der Kündigung war hiernach, ob gegen eine den Arbeitnehmer individuell schützende Pflicht verstoßen wurde. Der EuGH hat heute zu einer Spezialfrage im europäischen Massenentlassungsrecht entschieden und einer reinen Verwaltungsvorschrift den individualschützenden Charakter abgesprochen.
Nun bleibt es spannend, wie das Bundesarbeitsgericht mit dieser klaren Antwort des EuGH auf die spezielle Frage umgehen wird und ob es noch genug Anlass sieht, die bisher angedeutete Zeitenwende im Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsverfahren einzuleiten.
Im Januar 2022 legte das Bundesarbeitsgericht dem EuGH eine wenig beachtete Frage nach dem Zweck einer bestimmten, in der europäischen Massenentlassungs-Richtlinie geregelten Pflicht des Arbeitgebers zur Entscheidung vor. Im weiteren Verlauf hatte sich nach mehreren Aussetzungsbeschlüssen des 6. Senates des Bundesarbeitsgerichts eine Zeitenwende in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Sanktionssystem bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren abgezeichnet. Nach dem heutigen EuGH-Urteil besteht Klarheit hinsichtlich einer Spezialfrage. Es verbleibt jedoch offen, ob das Bundesarbeitsgericht dennoch eine Überprüfung des deutschen Sanktionssystems für notwendig erachtet. Die Intransparenz des § 17 KSchG und das vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Sanktionssystem haben gravierende Folgen für Arbeitgeber. Eine Überprüfung oder gar Reform des Sanktionssystems könnte zur lang ersehnten Entlastung der Arbeitgeber und zu mehr Klarheit in der Praxis führen.
Hintergrund
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist ein Kündigungsschutzverfahren, das es bis zum Bundesarbeitsgericht schaffte. Im seit 2021 geführten Revisionsverfahren geht es maßgeblich um die Auslegung einer aus dem europäischen Massenentlassungsrecht umgesetzten Norm. Da die Auslegung der europäischen Vorschrift einzig dem EuGH obliegt, legte das Bundesarbeitsgericht die Auslegungsfrage nach dem Zweck der Zuleitungspflicht aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 Massenentlassungs-Richtlinie dem EuGH zur Entscheidung vor.
Brisanz entwickelte sich allerdings mit dem sog. Schlussantrag des Generalanwaltes (eine Art Gutachten/Empfehlung eines Rechtsberaters des EuGH). Der Schlussantrag problematisierte die durch das Bundesarbeitsgericht entwickelte Sanktionsfolge und ließ erkennen, dass es auf die den Arbeitnehmer individuell schützende Pflicht oder eine Pflicht mit kollektivem Charakter gar nicht ankommen könnte. Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts nahm daraufhin im Mai den Schlussantrag zum Anlass, das in jahrelanger Rechtsprechung entwickelte Sanktionssystem bei Verstößen im Massenentlassungsverfahren zu überdenken und setzte weitere Revisionsverfahren bis zur heutigen Entscheidung des EuGH aus.
Worum geht es konkret?
Bei einer insolventen GmbH wurde eine Massenentlassung durchgeführt. Im Zuge dessen wurde mit dem Betriebsrat das obligatorische Informations- und Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG durchgeführt. Entgegen den gesetzlichen Vorgaben wurde der Agentur für Arbeit jedoch keine Abschrift des Informations- und Konsultationsschreibens, welches an die Arbeitnehmervertretung überreicht wurde, übermittelt.
Die aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungs-Richtlinie stammende Pflicht des Arbeitgebers, dass der zuständigen nationalen Behörde eine Abschrift des Informations- und Konsultationsschreibens, die an die Arbeitnehmervertretung übermittelt worden ist, zuleiten muss, wurde nun durch den EuGH auf ihren Zweck hin ausgelegt.
Was ist der Hintergrund der Frage nach dem Zweck?
Sowohl die Massenentlassungs-Richtlinie als auch die maßgebliche nationale Vorschrift, § 17 KSchG, sehen keine Sanktionen oder Rechtsfolgen bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren vor.
Vor diesem Hintergrund füllte die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts diese Lücke mit Inhalt und entwickelte für Deutschland ein spezielles Sanktionssystem. Hiernach überprüft die Rechtsprechung zunächst, ob der Arbeitgeber eine in § 17 KSchG festgelegte Pflicht bei der Anzeige der Massenentlassung oder im Falle des Bestehens eines Betriebsrats eine Pflicht im Konsultationsverfahren missachtet hat. Ist ein Verstoß gegen festgelegte Pflichten feststellbar, prüft die Rechtsprechung, ob diese bestimmte Pflicht des Arbeitgebers den Arbeitnehmern einen individuellen und nicht bloß kollektiven Schutz verschafft. Nur wenn beide Voraussetzungen vorliegen, wird die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt.
Was hat der EuGH heute entschieden?
Der EuGH positionierte sich heute klar gegen den individualschützenden Charakter einer reinen Verwaltungsvorschrift in der Massenentlassungs-Richtlinie. Die Pflicht aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2, den nationalen Behörden (in Deutschland der Agentur für Arbeit) in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen mitzuteilen, dient nicht dazu, den einzelnen Arbeitnehmer zu schützen.
Anders noch als die Schlussanträge des Generalanwalts einige Monate zuvor hat der EuGH keine ergänzenden Hinweise zur Festlegung der anwendbaren Maßnahmen im Falle von Pflichtverstößen im Massenentlassungsverfahren gegeben. Hierfür bestand auch kein Anlass. Der EuGH hat bereits in einer Entscheidung vom 04.06.2020 (Rs. C-32/20) zu einem italienischen Massenentlassungsverfahren festgehalten, dass es alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, die Sanktionsfolge bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren auszugestalten. Die gewählten Sanktionen sollen abschreckende Wirkungen haben.
Eine erste Einordnung
Die heutige Entscheidung des EuGH betrifft primär eine Spezialfrage. Sie klärt zunächst nur den Zweck einer bestimmten in der Massenentlassungs-Richtlinie geregelten Pflicht des Arbeitgebers und bietet dem Bundesarbeitsgericht daher im konkreten Fall keinen Anlass mehr, das entwickelte Sanktionssystem zu überprüfen. Allerdings lassen die Geschehnisse in dem heute vorerst abgeschlossenen Vorlageverfahren Anhaltspunkte für eine künftige Anpassung des für Deutschland entwickelten Sanktionssystem erkennen. In anderen, vom 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts bis zur heutigen Entscheidung des EuGH ausgesetzten Revisionsverfahren vermag noch Raum für eine Überprüfung des Sanktionssystems bestehen. Das lässt, solange der Gesetzgeber die Unklarheiten des § 17 KSchG noch nicht beseitig hat, jedenfalls auf begrüßenswerte Entlastungen für den Arbeitgeber hoffen.
Im Ergebnis verbleibt der künftige Umgang des Bundesarbeitsgerichts mit dieser Entscheidung und der in Aussicht gestellten Überprüfung der Sanktionsfolge auch weiterhin brisant.
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