Zwischen Fürsorge und Liberalität
Um ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, führen immer mehr Unternehmen flexible, oftmals auf Vertrauen basierende, Arbeitszeitmodelle ein. Diese werden regelmäßig mit dem Angebot kombiniert, auch den Arbeitsort weitgehend selbständig zu bestimmen (Home-Office oder mobiles Arbeiten). Das ist besonders in (anspruchsvolleren) Dienstleistungsorganisationen en vogue und mittlerweile notwendige (Mindest-)Voraussetzung, um »High Potentials« für sich zu gewinnen. Zugleich ist dies verbunden mit der Hoffnung, dass sich das Vertrauen in Engagement und Mehrleistung auszahlt.
Auch wenn es nicht immer funktioniert, so lässt sich beobachten, dass erhöhte Freiheitsgrade durch Leistung meist mehr als kompensiert werden. Kritiker sprechen dann von organisierter (Selbst-)Ausbeutung. Dem müsse fürsorglicher Schutz entgegengesetzt werden, vor sich selbst und den ausbeuterisch entstehenden Gruppennormen. Und wer mit hochbezahlten Führungskräften und Spezialisten zu tun hat, kann ein Lied davon singen, dass bei Vertrauensarbeitszeit die Erwartungslatte (Ziele etc.) nur hoch genug gehängt werden muss, damit sich der zeitliche Einsatz im gewünschten Maß nach oben reguliert. Aus diesen Zusammenhängen wird der fürsorgliche Schutz des modernen »Proletariats« vor den Methoden des »Kapitals« verständlich.
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Arbeit auch Lebenselixier sein kann, wenn der Arbeitseifer aus intrinsischer Motivation erwächst. Anders ist der Einsatz vieler Arbeitender nicht zu erklären, beispielsweise von Forschern, Selbständigen und Startup-Mitarbeitern, die oft aus freien Stücken und persönlichem Interesse ihre Ziele selbst hoch ansetzen. Aus dieser Perspektive sieht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs wie eine sozialistische Bevormundung aus, ein Angriff auf die liberale Freiheit, das die Eigenverantwortung von mündigen Erwachsenen mit Füßen tritt.
Gerade die viel diskutierten und umworbenen Generationen aus den letzten Buchstaben des Alphabetes verlangen nach Selbstorganisation, flexibleren Gestaltungsmöglichkeiten von Privat- und Arbeitsleben und Vertrauen(svorschüssen). Die dahinter liegenden (meist agil benannten) Arbeitskonzepte sind hip und werden in den Gazetten als Allheilmittel für erfolgreiche Unternehmensführung hochstilisiert. Unabhängig von der Frage, ob man in einem Arbeitnehmermarkt wirklich eine arbeitszeitrechtliche Flächenbeglückung braucht – in diesem »Geist« wirkt das Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung wie eine Zeitreise zurück in die 60-er (des letzten Jahrhunderts wohlgemerkt!). Ein empörungspotenter Leckerbissen für die hysterieerprobten (sozialen) Medien.
Schauen wir uns genauer an, was passiert ist...
Der EuGH hat entschieden, dass Arbeitgeber gesetzlich dazu verpflichtet werden müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Hintergrund der Entscheidung
Eine spanische Gewerkschaft beantragte in einem gerichtlichen Verfahren festzustellen, dass die Deutsche Bank SAE verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Das Oberste spanische Gericht kam zu dem Ergebnis, das spanische Recht verpflichte Arbeitgeber lediglich, die von Arbeitnehmern geleisteten Über-stunden aufzuzeichnen und die Aufstellung am jeweiligen Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter zu übermitteln. Der spanische Nationale Gerichtshof zweifelte die Auslegung des nationalen Rechts durch das Oberste Gericht mit dem Unionsrecht an und rief den EuGH in einem sog. Vorabentscheidungsverfahren an. Der EuGH (Urt. v. 14.05.2019 C-55/18 Nationaler Gerichtshof Spanien) entschied, dass die bloße Pflicht zur Aufzeichnung von Überstunden nach spanischem Recht nicht ausreichend sei. Vielmehr obliege es den Mitgliedstaaten ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann.
Wie ist die bisherige Rechtslage in Deutschland?
Die Entscheidung des EuGH erging in einem sog. Vorabentscheidungsverfahren und richtet sich an die europäischen Mitgliedstaaten, eine entsprechende nationale gesetzliche Regelung zu schaffen.
In Deutschland bestehen bereits jetzt für Unternehmen umfangreiche Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeit. So ist die werktäglich über 8 Stunden hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen. Darüber hinaus sind Unternehmen verpflichtet, Beginn und Ende der Arbeitszeit von Berufskraftfahrern sowie der im Mindestlohnbereich und den durch das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz reglementierten Branchen tätigen Mitarbeitern aufzuzeichnen. Verstöße gegen das ArbZG, also auch die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit, stellen eine Ordnungswidrigkeit dar und können mit einer Geldbuße bis zu EUR 15.000 geahndet werden. Wirtschaftlich schmerzlicher als eine Geldbuße ist die daneben bestehende Möglichkeit der Behörden, die Einziehung des durch den Verstoß gegen das ArbZG erlangten wirtschaftlichen Vorteils anzuordnen.
Die Arbeitsschutzbehörden können zudem bei festgestellten Verstößen gegen die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit Anordnungen treffen, um Arbeitgeber zur Einhaltung der Aufzeichnungspflicht zu zwingen. Eine solche Anordnung kann beispielsweise auch in einer Verpflichtung des Unternehmens bestehen, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu erfassen. Ob sie ihren Verpflichtungen nach dem Arbeitszeitgesetz bereits jetzt nachkommen, müssen die Unternehmen den Arbeitsschutzbehörden auf Anforderung Auskunft erteilen.
Eine weitere Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit kann sich für Unternehmen mit Betriebsräten ergeben: Das Bundesarbeitsgericht hat bereits im Jahre 2003 entschieden, dass Betriebsräte über ihren aus dem Betriebsverfassungsgesetz folgenden Auskunftsanspruch den Arbeitgeber dazu verpflichten können, ihnen Auskunft über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu erteilen. Dies gilt selbst dann, wenn Arbeitgeber auf die Erfassung der Arbeitszeit bewusst verzichten. Dies hat das BAG ausdrücklich für ein durch den Arbeitgeber praktiziertes Modell, einer sog. Vertrauensarbeitszeit, entschieden.
Zurück zur Stechuhr?
Was aber folgt nun aus der Entscheidung des EuGH? Müssen Arbeitgeber seit dem Zeitpunkt der Entscheidung des EuGH jegliche Arbeitsstunde des Arbeitnehmers erfassen? Um es vorwegzunehmen: Es handelt sich bei der Entscheidung des EuGH um eine »typische« Entscheidung der Europäischen Richter, die mindestens ebenso viele neue Fragen aufwirft, wie sie beantwortet. In der juristischen Literatur und Politik wird daher mit Verve über die Auslegung dieser Entscheidung diskutiert und insbesondere, ob und wie der deutsche Gesetzgeber verpflichtet ist, die Entscheidung des EuGH ins nationale Recht umzusetzen. Einzelne Stimmen vertreten die Auffassung, dass bereits durch eine sog. europarechtskonforme Auslegung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften das durch den EuGH proklamierte Ziel des Schutzes der Arbeitnehmer erreicht werden kann. Dies würde für Unternehmen bedeuten, dass sie bereits jetzt das durch den EuGH geforderte Zeiterfassungssystem implementieren und die tägliche Arbeitszeit erfassen müssten. Wir erwarten mit Spannung, ob die deutschen Gerichte dieser Auffassung folgen werden.
Ebenso interessant ist, ob und wie der deutsche Gesetzgeber die Entscheidung des EuGH in nationales Recht umsetzen wird – und dies hoffentlich mit Ruhe und Bedacht unter Berücksichtigung der Rufe aus der Wirtschaft nach einem moderneren Arbeitszeitgesetz machen wird. Nach dem ersten Aufschrei in den Medien ist es um dieses Thema wieder deutlich ruhiger geworden. Ein positives Signal ist, dass dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung des Urteils des EuGH ein Entscheidungsspielraum zusteht. Der EuGH fordert, dass Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängliches System einrichten müssen, stellt an dieses System aber keine näher definierten Anforderungen. Dies muss weder die in den Medien vielfach bemühte »Stechuhr« sein, noch muss es sich um eine elektronische Zeiterfassung handeln. In klassischen »9-to-5-Jobs« wird das Urteil daher möglicherweise überhaupt keine Relevanz haben, wenn man die Europäischen Richter so versteht, dass nicht die tägliche Arbeitszeit im Einzelnen aufzuzeichnen ist, solange sichergestellt wird, dass die Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten eingehalten werden. Relevanz wird das Urteil aber inagilen Arbeitsmodellen haben, in denen es dem Arbeitgeber gerade nicht auf ein starres Arbeitszeitmodell, sondern auf ein ergebnisorientiertes, flexibles Arbeiten ankommt.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber weiteren Gestaltungsspielraum hat, z.B. Ausnahmen für Unternehmen unterhalb einer bestimmten Mitarbeiteranzahl oder für bestimmte Mitarbeitergruppen schaffen kann. Letztere sind beispielsweise solche, bei denen aufgrund ihrer Tätigkeit der Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit nicht absehbar ist (z.B. im ärztlichen Bereich) oder die ihre Arbeitszeit selbst festlegen (z.B. Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeit).
Time is money...
Der neblige Blick in die Glaskugel des Gesetzgebers und der Auslegung des Urteils des EuGH sollte Unternehmen aber nicht davon abhalten, sich bereits jetzt mit ihren Arbeitszeitmodellen zu befassen. Zwar betraf die Entscheidung des EuGH allein das öffentliche Arbeitszeitrecht als Arbeitsschutzrecht: Schutz der Arbeitnehmer vor zeitlicher, weil gesundheitsschädlicher Ausbeutung.
Der EuGH hat sich hingegen nicht mit der Frage befasst, ob die durch ein Arbeitszeitsystem erfasste und damit »sichtbar« gewordene Arbeitszeit auch zu vergüten ist. Diese Frage ist für Unternehmen von hoher wirtschaftlicher Relevanz. Denn: In jeder Minute Arbeitszeit steckt Vergütung, die arbeits- und tarifvertraglich geregelt ist. Deren Gestaltung sollte nunmehr (wieder) verstärkt in den Fokus rücken. Hierbei stellt sich zum einen die Frage, was überhaupt »Arbeitszeit« ist und ob und in welcher Höhe diese zu vergüten ist. Vergütungspflichtig ist nur Arbeitszeit, die der Arbeitnehmer fremdnützig »für« seinen Arbeitgeber und nicht eigennützig aufwendet. Relevant wird dies beispielsweise bei dem »gelegentlichen« Plausch unter Kollegen nach oder vor einem Meeting. Ist dies noch Arbeitszeit oder Freizeitvergnügen? Und will der Arbeitgeber überhaupt solche nützliche und wichtige betriebsinterne Kommunikation unterbinden? Ein weiteres für die Praxis wichtiges Beispiel wo diese Unterscheidung zwischen Fremd- und Eigennützigkeit relevant wird, sind Dienstreisen. Das BAG hat im Jahr 2018 entschieden, dass erforderliche Dienstreisen außerhalb der regulären Arbeitszeit zu vergüten sind – und zwar nicht nur die erforderliche Dienstreise selbst, sondern auch der mit der Beförderung einhergehende weitere Zeitaufwand (z.B. die Anreise zum Flughafen sowie Zeiten für das Einchecken und die Gepäckausgabe). Diese Zeiten können Arbeitgeber aber pauschal vergüten – wenn sie es denn mit ihren Mitarbeitern vereinbaren.
Zudem ist nicht jede durch eine Arbeitszeiterfassung visualisierte Arbeitsstunde zugleich vergütungspflichtige (Mehr-)arbeit. Vergütungspflichtige Mehrarbeit liegt erst dann vor, wenn sie durch den Arbeitgeber angeordnet oder duldend entgegengenommen wird. Arbeitgeber haben zudem die Möglichkeit, geleistete Mehrarbeit (tarif-)vertraglich pauschaliert zu vergüten. Dies führt aber bei einer elektronisch erfassten Arbeitszeit in Arbeitszeitkonten zu der Frage, ob die so erfasste Arbeitszeit als durch den Arbeitgeber als Mehrarbeit anerkannt gilt. Das BAG hat sich mit dieser Frage im Jahre 2015 befasst und festgestellt, dass Arbeitszeit, die auf einem Arbeitszeitkonto durch den Arbeitgeber unbeanstandet erfasst wird, vergütungspflichtige Arbeitszeit darstellt.
Zeiterfassungssysteme sollten dies (zukünftig) berücksichtigen und daher beispielsweise zwischen Gleitzeitkonten und Mehrarbeitskonten differenzieren.
...und Performance
Zeit ist aber nicht nur Geld, sondern auch individuelle Leistung des einzelnen Mitarbeiters. In jeder Arbeitsstunde steckt Performance, die umso wichtiger wird, je mehr Arbeitszeit (zusätzlich) zu vergüten ist. Erfassen Arbeitgeber die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten, kommt es üblicherweise zu einer »Verdichtung« der Arbeitsleistung. Denn dann interessiert den Arbeitgeber nicht nur ob der Arbeitnehmer überhaupt seine Arbeitsleistung erbringt oder wie böse Zungen behaupten (und so manche Betriebsvereinbarungen festlegen) »anwesend« ist, sondern insbesondere das Ergebnis der Arbeit. Vergütungspflichtige Arbeitszeit ist nicht nur die für den Arbeitgeber verwertbare, also »gute« Vollarbeit, sondern auch eine schlechte Arbeitsleistung. Aufgrund des Fixschuldcharakters der Arbeit ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, seine Arbeitsleistung so lange nachzuholen, bis sie für den Arbeitgeber verwertbar ist. Schafft er es nicht, seine Arbeit während der vertraglich vorgegebenen Arbeitszeit zur Zufriedenheit des Arbeitgebers zu erbringen und fordert dieser den Arbeitnehmer auf, länger zu bleiben, bis das Arbeitsergebnis stimmt, ist diese zusätzliche Arbeitszeit zu vergüten. Das setzt voraus, dass der Arbeitnehmer nicht bereits seine werktägliche Höchstarbeitszeit erreicht hat, ab der er ohnehin nicht mehr zur Arbeit herangezogen werden kann. Werden Arbeitgeber daher zukünftig dazu angehalten, die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer zu erfassen und auch zu vergüten, werden sie ein Interesse daran haben, nur die fremdnützige Arbeitszeit zu erfassen. Dies wird Unternehmen nicht nur vor erhebliche technische und rechtliche Probleme stellen, sondern auch Auswirkungen auf die Organisation haben.
Droht ein Bruch des »psychologischen« Vertrags?
Ein gutes Performance Management ist daher der zweite wichtige Baustein neben einer klugen Gestaltung von Arbeitszeitmodellen. Das trifft besonders Organisationen, für die zeitlich flexible Arbeitszeitmodelle unverzichtbar sind. Arbeitnehmer, die Flexibilität bewusst einkalkulieren, werten die persönlichen Freiheitsgrade in der Arbeitsgestaltung als festen Bestandteil ihres psychologischen (Arbeits-)Vertrags. Dieser psychologische Vertrag besteht aus den – arbeitsvertraglich nicht erfassten – eher impliziten Erwartungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dazu gehört in agilen Arbeitsumfeldern auch, dass Mitarbeiter ihren Arbeitseinsatz – abhängig vom Arbeitsaufkommen und der eigenen Bedürfnislage – selbstbestimmt hoch- oder runterfahren können. Phasen mit niedriger Arbeitsintensität werden durch Mehreinsatz an anderer Stelle ausgleichen. Eine Unterscheidung zwischen Fremd- und Eigennützigkeit der Arbeitsleistung ist ihnen fremd. Überraschende »Eingriffe« in die persönliche Zeiteinteilung (wie etwa durch neue Arbeitszeitregulierungen) können als psychologischer Vertragsbruch erlebt werden und zu einer Senkung der Leistungsbereitschaft führen.
Hier entsteht im Vorfeld ein nicht unerheblicher Aufklärungs-und Gesprächsbedarf zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Kernthemen sind die unveränderten Leistungserwartungen des Arbeitgebers unter den veränderten Rahmenbedingungen und die Reflexion der hieraus resultierenden Anforderungen an die Selbstorganisation der Arbeitnehmer. Ziel ist es, den psychologischen Vertrag auf ein neues Fundament zu stellen. Dabei sollten die Gespräche um folgende Fragen kreisen:
Welche neuen gesetzlichen Anforderungen können durch das Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung auf uns zukommen und welche Umsetzungserfordernisse ergeben sich für uns als Arbeitgeber?
Welche Szenarien für das Zusammenspiel zwischen Team (oder Unternehmen) und Mitarbeitern lassen sich daraus ableiten, auch wenn es aktuell eher Spekulation ist? Mit welchen Vor- und Nachteilen sind diese Szenarien auf Mitarbeiter- und Unternehmensseite verbunden?
Wie können wir mit diesen Szenarien gesetzeskonform und fair umgehen, so dass einerseits die Leistung nicht auf der Strecke bleibt, andererseits die Freiheitsgrade nicht über das notwendige Maß hinaus beschränkt werden?
Ziel ist es, die vom Mitarbeiter potentiell empfundene Unwucht (»Ich verliere Freiheitsgrade, muss mich anders organisieren, habe einen erhöhten monetären/zeitlichen Aufwand und bekomme dafür nicht mehr Geld!«) ans Licht zu bringen und aufzulösen.
Die Leistungsbereitschaft eines Mitarbeiters kann dann umso eher erhalten werden, je besser es gelingt die negative Bilanz in der Verteilungsgerechtigkeit durch eine positive Bilanz bei der Verfahrensgerechtigkeit, der interpersonalen und informationellen Gerechtigkeit auszugleichen. Damit die Gespräche die gewünschte Wirkung entfalten, sollte den Arbeitnehmern und/oder auch den Arbeitnehmervertretungen in den Gesprächen deutlich gemacht werden,
dass neue Rahmenbedingungen zur Arbeitszeit nicht willkürlich geschaffen werden, sondern durch die geänderte Rechtsprechung und Gesetzgebung erforderlich geworden sind und daher für alle Unternehmen gleichermaßen gelten.
(→ Verfahrensgerechtigkeit)
dass der Arbeitgeber gemeinsam mit den Arbeitnehmern und der Arbeitnehmervertretung eine einvernehmliche und möglichst gangbare Lösung sucht.
(→ Verfahrensgerechtigkeit / z.T. Verteilungsgerechtigkeit)
der Arbeitgeber frühzeitig und offen auf den Arbeitnehmer zugeht und dieser ausreichend Zeit erhält, sich an die veränderte Situation anzupassen.
( → Verfahrensgerechtigkeit / informationelle Gerechtigkeit)
dass man respektvoll mit (ihnen als) Mitarbeitern umgeht.
(→ interpersonelle Gerechtigkeit)
Ist die Agilität damit am Ende?
Vor diesem Hintergrund stellt sich zuletzt die Frage, ob mit der Einführung einer Arbeitszeiterfassung zukünftig bestimmte Arbeitszeitmodelle nicht mehr umsetzbar sind und damit das Ende der Agilität eingeläutet ist. Nach der Veröffentlichung der Entscheidung des EuGH wurden bereits sowohl die Vertrauensarbeitszeit als auch ortsungebundene Arbeitsmodelle wie Home-Office und mobiles Arbeiten für tot erklärt. Dies ist in der Pauschalität sicherlich nicht zutreffend. Berechtigt und zu diskutieren ist allerdings die Frage, ob der Arbeitgeber auch zukünftig wie bisher die Erfassung der Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer in eigener Verantwortung übertragen kann. Konkret:
Wird ein Arbeitszeiterfassungsmodell, in dem der Arbeitnehmer selbstbestimmt über seine Arbeitszeit entscheidet und diese auch selbst erfasst den durch den EuGH gestellten Anforderungen an ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeitsystem noch gerecht? Oder handelt es sich um eine Selbstausbeutung 2.0., die gerade durch das postulierte »verlässliche« System der Arbeitszeiterfassung verhindert werden soll?
Muss der Arbeitgeber aus Compliancesicht nicht jedenfalls die Einhaltung der Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes auch weiterhin selbst überprüfen (Arbeitszeitcompliance ist Chefsache!)?
Auch wenn hier noch vieles ungeklärt ist, führt eine Analyse der Entscheidung des EuGH zu den zwei wichtigsten Tipps bei der Überarbeitung von Arbeitszeitmodellen und einem adäquaten Performance Management: Erstens: Lösen Sie sich von Begrifflichkeiten wie »Vertrauensarbeitszeit« & Co. und hinterfragen Sie, welche operativen (Leistungs-)Bedürfnisse bestehen und wie diese betrieblich und juristisch sauber umgesetzt werden können. Die Praxis zeigt, dass beispielsweise nicht überall Vertrauensarbeitszeit drinsteckt, wo sie auch draufsteht. Buzz Words bringen Sie nicht weiter. Zweitens: »Arbeitszeitehrlichkeit« ist der Schlüssel zum Erfolg. Hinterfragen Sie, was Sie als Unternehmern möchten und wo tatsächlich ein Problem liegt. Geht es darum, dass zu viele Überstunden im Unternehmen angehäuft werden, hinterfragen Sie in einem ersten Schritt, warum es zu diesen Überstunden kommt. Ist tatsächlich der einzelne Mitarbeiter oder eine Mitarbeitergruppe ständig überlastet oder wird die Arbeit vielleicht nur ungleichmäßig verteilt? Möglicherweise liegt das Problem auch viel tiefer und es werden immer einzelne Mitarbeiter (die High Performer) zur (Mehr-)arbeit herangezogen, weil andere Mitarbeiter (die Low Performer) ihre Arbeitsleistung nicht oder nicht ausreichend erbringen und die zu erledigende Arbeit umverteilt wird. Dann haben Sie möglicherweise gar kein Problem mit Ihrem Arbeitszeitmodell, sondern mit Ihrer Organisation. Oder geht es Ihnen um die Kosten der Arbeit? Dann hinterfragen Sie sich ehrlich, ob Sie sich durch Begrifflichkeiten wie Vertrauensarbeitszeit gesetzlichen Verpflichtungen entziehen oder kreativ Einfluss auf die Vergütung nehmen möchten. An dieser Stelle wird das Urteil des EuGH sicherlich zu neuen Herausforderungen für Unternehmen führen. Letztlich kann es auch darum gehen, die betrieblichen Strukturen mit den gesetzlichen Verpflichtungen im Sinne einer (Arbeitszeit-)Compliance, einer guten Unternehmenskultur und einem klaren Austausch über Leistungserwartungen in Einklang zu bringen. Die (ehrliche) Antwort auf diese Frage wird Ihnen den Weg aufzeigen, ob und wie Sie die Entscheidung des EuGH bereits jetzt umzusetzen haben.
Co-Autor: Raimund Gebhardt (Profil Concept)