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Arbeitszeiterfassung - Immer etwas Neues und dieses Mal auch etwas Gutes

van_portraits_840x840px_02_dehmel.png Dr. Esther Dehmel

Juni 2021

Lesedauer: Min

Das LAG Niedersachsen verneint die unmittelbare Geltung der Vorgaben des EuGH in Deutschland

Der EuGH hatte im Mai 2019 entschieden, dass die Arbeitszeiterfassung in den Mitgliedsstaaten der EU durch ein objektives, verlässliches und zugängliches System erfolgen muss. Das ArbG Emden ging sodann in verschiedenen Entscheidungen von einer unmittelbaren Wirkung dieses Urteils in Deutschland aus und gab mehreren Klagen auf Überstundenvergütung statt. Eines dieser (Teil)Urteile hob das LAG Niedersachsen im Mai 2021 nun auf und verneinte eine unmittelbare Wirkung der vom EuGH aufgestellten Vorgaben.

Kurz zusammengefasst: Rückblick auf EuGH
In seinem Urteil vom 14.05.2019 (Az.: C-55/18) entschied der EuGH, dass Mitgliedsstaaten verpflichtet sind, nationale Regelungen zur Einführung / Etablierung eines umfassenden Zeiterfassungssystems zu schaffen. Dies mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in den EU-Mitgliedstaaten durch eine Angleichung der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Die „objektive und verlässliche Feststellung“ der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden sei, so der EuGH, für die Beurteilung, ob die wöchentliche Höchstarbeitszeit im festgelegten Bezugszeitraum und ob die täglichen oder wöchentlichen Mindestruhezeiten eingehalten werde, unerlässliche Voraussetzung. Das bloße Erfassen beziehungsweise Dokumentieren der geleisteten Überstunden sei insofern nicht ausreichend.

Diesen umfassenden Vorgaben des EuGH genügt die in Deutschland derzeitig geltende arbeitgeberseitige Aufzeichnungspflicht nach § 16 Abs. 2 ArbZG, d.h. von Stunden, die über die werktägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden hinausgehen, oder auch von anderen arbeitsrechtlichen Gesetzen (z.B. AÜG odr MiLoG) nicht. 

Der deutsche Gesetzgeber ist demnach in der Pflicht, die Gesetzgebung an die unionsrechtlichen Vorgaben anzupassen; dies ist bislang nicht geschehen.

ArbG Emden sagt „ja“ zum EuGH
Das ArbG Emden hatte im Februar 2020 (Az.: 2 Ca 94/19) die Rechtsprechung des EuGH zum Anlass genommen, der Klage eines Arbeitnehmers auf Überstundenvergütung stattzugeben. 

In dem zu entscheidenden Fall hatte der Arbeitnehmer auf Basis eigener Aufzeichnungen die Vergütung von Überstunden gefordert. Zu diesen Aufzeichnungen konnte sich der Arbeitgeber jedoch nicht substantiiert äußern, da er kein den Anforderungen und Vorgaben des EuGH entsprechendes Arbeitszeiterfassungssystem hatte. Das ArbG Emden stellte sodann fest, dass sich der Arbeitgeber, da er keine den Vorgaben des EuGH entsprechende Arbeitszeiterfassung vorhielt, nicht darauf berufen könne, dass die vom Arbeitnehmer geltend gemachten Überstunden unzutreffend sind. Infolgedessen wurde der Klage stattgegeben. Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig.

Dieser Linie blieb das ArbG Emden in zwei weiteren (Teil)Urteilen treu und gab der jeweiligen Klage auf Überstundenvergütung statt. In beiden Fällen argumentierte das ArbG Emden dahingehend, dass der Arbeitgeber in Anlehnung an die EuGH-Rechtsprechung aus Mai 2019 und europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten verpflichtet gewesen sei. Komme er dem nicht nach (weil er keine Arbeitszeiten erfasse und/oder diese nicht kontrolliere), seien geleistete Überstunden, dem Arbeitgeber zurechenbar und dieser könne etwaig vorgelegte Indizien bzgl. der eingeklagten Überstunden nicht entkräften.

LAG Niedersachsen erteilt EuGH eine Absage
Mit Urteil vom 06.05.2021 (Az.: 5 Sa 1292720) – bislang liegt nur die Pressemitteilung vor – ist das LAG Niedersachsen der sich zeigenden Argumentationslinie des ArbG Emden entgegen getreten. Es hat unter Abänderung des (Teil)Urteils des ArbG Emden (v. 09.11.2020 - 2 Ca 399/18) die Klage des Arbeitnehmers auf Überstundenvergütung abgewiesen.

Das Urteil des EuGH aus 2019 habe keine Aussagekraft für die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess mit Blick auf die Anordnung beziehungsweise Duldung von Überstunden durch den Arbeitgeber oder deren Betriebsnotwendigkeit.

Dem EuGH komme keine Kompetenz zur Entscheidung über Fragen der Vergütung zu. Dies ergebe sich aus Art. 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).  Dementsprechend habe das Urteil keine Aussagekraft für die Darlegungs- und Beweislast im Prozess um Überstunden bzgl. einer etwaigen Duldung, Anordnung oder Betriebsnotwendigkeit von Überstunden. Insofern –der Kläger hatte die Duldung, Anordnung oder Betriebsnotwendigkeit nicht dargelegt -  ging das LAG Niedersachsen davon aus, dass die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Überstundenvergütung nicht gegeben waren.

Der Rechtsstreit ist jedoch noch nicht beendet. Die Revision zum BAG wurde zugelassen. Es bleibt also spannend!

Und was nun?
Die ergangene Entscheidung des LAG Niedersachsen ist unseres Erachtens zutreffend und steht im Einklang mit der vielfach geäußerten Kritik an den Entscheidungen des ArbG Emden: Demnach bedarf die Entscheidung des EuGH der Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber. Ihr kommt keine unmittelbare Wirkung zu, da die Vorgaben des EuGH zu wenig konkret sind und – so macht es der EuGH selbst deutlich – Gestaltungsspielräume für den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung bestehen. Zudem versucht das ArbG Emden das EuGH-Urteil auf die vergütungsrechtliche Ebene zu ziehen, obwohl das EuGH Urteil bezogen auf Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne ergangen ist, d.h. mit Blick auf den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. 

Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass das Urteil des LAG Niedersachsen durch eine etwaige Revision zum BAG bestätigt wird.

Gleichzeitig bleibt nach wie vor abzuwarten, ob und wie der deutsche Gesetzgeber die Entscheidung des EuGH in Deutschland umsetzten wird. Auch wenn dies – aufgrund des vom EuGH eingeräumten Gestaltungsspielraums – derzeit noch nicht klar ist, sollten sich Unternehmen bereits jetzt mit ihren Arbeitszeitmodellen und der dazugehörigen Arbeitszeiterfassung befassen. Ansonsten können auf kurze Sicht „mittelbare“ Nachteile im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von Überstundenvergütungs-Klagen nicht ausgeschlossen werden. Langfristig ist davon auszugehen, dass die deutsche Gesetzeslage insoweit angepasst wird, dass Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit samt Pausen sowie die wöchentliche Arbeitszeit insgesamt zu erfassen sind.