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Ja zu mehr Videoverhandlungen!

van_portraits_840x840px_17_kaul.png Christoph Kaul

Februar 2022

Lesedauer: Min

In der arbeitsgerichtlichen Praxis werden die Möglichkeiten des Prozessrechts noch zu zögerlich genutzt

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Die Kammer des Arbeitsgerichts sitzt im Gerichtsgebäude, die Anwälte als Prozessbevollmächtigte in ihren Kanzleiräumen und die Parteien befinden sich im jeweiligen Unternehmen oder gar im Homeoffice. Kann bei diesem Setting eine arbeitsgerichtliche Verhandlung stattfinden? Die klare Antwort lautet: ja!

Unglaublich, aber wahr: Videoverhandlungen lässt die Zivilprozessordnung grundsätzlich bereits seit dem Jahr 2002 zu. Das Prozessrecht ist hier jedoch deutlich weiter als die arbeitsgerichtliche Praxis.

Was ist rechtlich möglich?
Die Arbeitsgerichtsbarkeit kann den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen (§ 128a Abs. 1 ZPO). Ob eine Videoverhandlung stattfindet oder nicht liegt im Ermessen des Gerichts, dessen Entscheidung diesbezüglich nicht anfechtbar ist (§ 128a Abs. 3 S. 2 ZPO).

Auch im Falle der Gestattung einer Videoverhandlung steht es den Prozessbeteiligten frei, „dennoch“ im Gerichtssaal zu erscheinen. 

Vorteile von Videoverhandlungen
Die Vorteile von Videoverhandlungen sind vielfältig. Reisezeiten und -kosten von Anwälten und Parteien entfallen. Videoverhandlungen stärken auch die Prozessökonomie. Für die Gerichte ist die Terminierung einfacher. Anwälte können problemlos mehrere Termine an einem Tag wahrnehmen, und zwar an unterschiedlichen Gerichten und vollkommen unabhängig vom jeweils konkreten Ort des Gerichts. Ebenfalls müssen etwaige Zeugen und Sachverständige nicht mehr reisen. All dies beschleunigt Verfahren und ist im Sinne aller Beteiligten.

Insbesondere in der aktuellen Pandemie haben Videoverhandlungen außerdem dazu beigetragen, die Funktionsfähigkeit der Justiz zu erhalten. Ohne Videoverhandlungen hätten in Zeiten des Lockdowns zahlreiche Prozesse erst mit vielen Wochen Verzögerung beginnen können. Nicht zuletzt verringern Videoverhandlungen das Risiko krankheitsbedingter Ausfallzeiten an den Gerichten, in Kanzleien und in Unternehmen. In diesem Zusammenhang hat das LAG Düsseldorf klargestellt: Auch aus dem Homeoffice sind Videoverhandlungen möglich, nicht jedoch aus der Kneipe, dem Schwimmbad oder vom Fußballplatz (Urteil vom 13.01.2021 – 12 Sa 453/20).

Wie sieht es in der Praxis aus? 
Unsere Erfahrungen mit Videoverhandlungen sind sehr positiv. Einige Arbeitsgerichte werben sogar aktiv für Videoverhandlungen und erklären transparent die rechtlichen und technischen Voraussetzungen. Leider ist die Arbeitsgerichtsbarkeit diesbezüglich überwiegend nach wir vor sehr zurückhaltend. Die Ablehnungsgründe zu Videoverhandlungen sind vielfältig, teilweise seltsam und kurios.

Best-of der Ablehnungsgründe
In Bayern lehnten Arbeitsgerichte mehrere Videoverhandlungen ohne jede Begründung ab. 

Ein hessisches Arbeitsgericht teilte mit, nicht über die technische Ausstattung für die Durchführung von Videoverhandlungen unter Einhaltung des Gebotes der Öffentlichkeit bei Aufenthalt der Parteien und ihrer Vertreter an einem anderen Ort als im Sitzungszimmer des Gerichts zu verfügen. Rechtlich gilt: Die erforderliche Öffentlichkeit (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG) wird auch bei Videoverhandlungen an der Gerichtsstelle hergestellt. Entscheidend war also allein die fehlende Videotechnik.

Gerichtsintern gilt mancherorts scheinbar: Wer zuerst kommt, mahlt zu zuerst. Eine Kammer eines nordrhein-westfälischen Arbeitsgerichts verhandelt seit Monaten ausschließlich per Video, während eine andere Kammer dieses Gerichts jeden Antrag mangels technischer Ausstattung ablehnt. Verständlich ist das nicht.

Landesarbeitsgerichte wiesen zuletzt darauf hin, es gebe keine Verpflichtung der Justiz, technische Ausstattungen mit Blick auf die Anforderungen einer prozessual sauberen Videoverhandlung vorzuhalten. Auch gebe es keinen Anspruch auf Bereithaltung und/oder Nutzung von Videotechnik. Das ist rechtlich zutreffend. Bedauerlich ist aber, dass diese Abwehrargumentationen den Willen zu (mehr) Videoverhandlungen vermissen lassen. 

Erfreulich ist: In Nordrhein-Westfalen bot ein Landesarbeitsgericht zuletzt von sich aus eine Videoverhandlung an und ermöglichte sogar die digitale Teilnahme von Studenten zu Lehrzwecken. 

Die zuständige Geschäftsstelle eines Arbeitsgerichts teilt mit, es fehle an der technischen Ausstattung. Im exakt gleichen Verfahren begründete der Richter seine Ablehnung jedoch anders. Mit einer Videoverhandlung sei der Verlust der für die Verhandlung wesentlichen neutralen Sitzungsatmosphäre des Gerichts verbunden. Zusätzlich wäre die Verhandlung – so das Arbeitsgericht – durch den Verlust von Nuancen nonverbaler Kommunikation erschwert. Auch fehle mangels persönlicher Anwesenheit der direkte persönliche Eindruck der Parteien. Das überzeugt nicht wirklich. Es handelte sich um einen Gütetermin. Bei der überwiegenden Zahl von Güteterminen – so auch hier – sind die Parteien ohnehin nicht anwesend. Einen persönlichen Eindruck der Parteien hätte und hat das Gericht also ohnehin nicht bekommen. Im Übrigen zeigt die Gerichtspraxis: Insbesondere in Güteterminen ist der persönliche Eindruck von den Parteien für die Arbeitsgerichte selten von entscheidender Relevanz.  

Einen kuriosen Ablehnungsgrund fand ein anderes nordrhein-westfälisches Arbeitsgericht: Eine Videoverhandlung sei nur dann möglich, wenn kein anderer Verfahrensbeteiligter im Gerichtssaal anwesend sei. Denn es sei nur eine Kamera für die/den Vorsitzende/n vorhanden. In unserem Fall hatte der Prozessbevollmächtigte der Gegenseite – insbesondere in Zeiten der Pandemie unverständlich – die digitale Verhandlung abgelehnt. Die Argumentation des Gerichts ist rechtlich bemerkenswert, denn das Gesetz fordert gerade kein Einverständnis beider Parteien, um eine Videoverhandlung zu gestatten. Letztlich scheiterte die Videoverhandlung auch hier an fehlendem Equipment.

Bessere technische Ausstattung dringend erforderlich 
Natürlich können Gerichte nur dann Videoverhandlungen gestatten, wenn die entsprechende technische Ausstattung vorhanden ist. Die gute Nachricht: Die Zahl der Anträge auf Durchführung von Videoverhandlungen ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, sicherlich beschleunigt durch die Pandemie. Tatsächlich fanden auch mehr Videoverhandlungen statt. Offensichtlich ist es aber noch ein weiter Weg, bis die Arbeitsgerichtsbarkeit flächendeckend Videoverhandlungen durchführen kann (und will). Diesbezüglich sollten Gerichte und Anwaltschaft an einem Strang ziehen und gemeinsam für eine Verbesserung der Videotechnik der Gerichte werben. 

Digitalisierung ist nicht aufzuhalten
Wir sind optimistisch, dass die zuständigen Ministerien und Behörden handeln und für eine bessere technische Ausstattung der Gerichte sorgen werden. Dies nicht nur mit Blick auf Videoverhandlungen. Die Digitalisierung wird weiter voranschreiten. Ein wichtiger Schritt ist die aktive und passive Nutzungspflicht des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs.

Zur Minimierung technischer Probleme aller Prozessbeteiligter ist eine einheitliche und standardisierte Software der Arbeitsgerichtsbarkeit für die Durchführung von Videoverhandlungen wünschenswert. Dies würde vermutlich auch einige Zweifler in der Anwaltschaft, die sich aufgrund etwaiger technischer Schwierigkeiten gegen Videoverhandlungen aussprechen, umstimmen können.

Im Sinne und auf Wunsch unserer Mandanten werden wir weiterhin – nicht nur in der Pandemie – Videoverhandlungen beantragen. Insofern geben wir die Hoffnung nicht auf, dass Videoverhandlungen zukünftig immer mehr zum arbeitsgerichtlichen Alltag gehören werden.