Zwei arbeitsgerichtliche Entscheidungen zur Begriffsklärung
Seit mehr als 13 Jahren ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) mittlerweile ein fester Bestandteil der arbeitsrechtlichen Praxis. Die Rechtsprechung hat in dieser Zeit insbesondere zu den verschiedenen Merkmalen des § 1 AGG eine Vielzahl von konkretisierenden Entscheidungen getroffen, vor allem zu den in der Praxis häufiger betroffenen Merkmalen, wie Geschlecht, Alter oder auch Religion. Gleichwohl bestehen immer noch „Graubereiche“, die der Klärung bedürfen. Das gilt gerade auch für das Merkmal der ethnischen Herkunft, zu dem das Arbeitsgericht Berlin sich mit interessanten Fragestellungen befassen durfte.
Ziele des AGG?
Ziel des AGG im arbeitsrechtlichen Bereich ist – kurz zusammengefasst – die Benachteiligung von Arbeitnehmern, Auszubildenden oder Bewerbern aus Gründen der Rasse, Behinderung, Weltanschauung, ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der sexuellen Identität sowie wegen des Alters zu verhindern oder zu beseitigen. Dementsprechend ist jede ungerechtfertigte unmittelbare oder auch nur mittelbare Benachteiligung eines Arbeitnehmers oder Bewerbers auch wegen seiner ethnischen Herkunft untersagt.
Das Merkmal der ethnischen Herkunft
Doch was versteht man genau unter dem Begriff der ethnischen Herkunft? Der Begriff wird gesetzlich weder in § 1 AGG noch in der Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG oder in Art. 19 AEUV näher definiert.
Offensichtlich ist die ethnische Herkunft nicht gleichzusetzten mit dem Merkmal der Nationalität. Allerdings gibt es anknüpfend an die Begriffsbestimmung in völkerrechtlichen Abkommen verschiedene Merkmale, die für das Vorliegen einer Ethnie sprechen. Zu diesen Merkmalen gehören unter anderem:
ein spezifisches Territorium
eine lange gemeinsame Geschichte
eine eigene kulturelle Tradition
spezifische soziale Gebräuche und Sitten
eine gemeinsame Sprache
eine gemeinsame Religion
Erforderlich ist eine Gesamtschau dieser Aspekte. Berücksichtigt man, dass das Wort „Ethnie“ auf das griechische Wort „ethnos“ zurückgeht und dies sprachlich gleichzustellen ist mit „Volk“ oder „Volkszugehörigkeit“, wird deutlich, dass die ethnische Herkunft im Sinne des § 1 AGG mehr als nur die Herkunft aus einem Ort, einem Landstrich, einem Land oder einem gemeinsamen Territorium beinhaltet. Der Begriff der Ethnie kann nur dann greifen, wenn zusätzlich noch die gemeinsame Geschichte und Kultur, die Verbindung zu einem bestimmten Territorium und ein Gefühl der solidarischen Gemeinsamkeit für eine bestimmbare Gruppe von Menschen gegeben ist. Wie immer bei Zuordnungsentscheidungen auf Grundlage einer Gesamtschau über eine Vielzahl von Kriterien, ergeben sich in den Randbereichen Grauzonen.
Frühere Entscheidung des Arbeitsgerichts Stuttgart
Bereits vor neun Jahren hatte das Arbeitsgericht Stuttgart zu entscheiden, ob eine Nichteinstellung einer Klägerin, welche aus der ehemaligen DDR stammte, einen Verstoß gegen das AGG darstellen kann (ArbG Stuttgart, Urt. v. 15.4.2010 – 17 Ca 8907/09). Der damaligen Klägerin wurden ihre Bewerbungsunterlagen mit dem Vermerk „Ossi -“ zurückgesandt. Aufgrund dessen fühlte sich die Klägerin diskriminiert und verlangte gemäß § 15 Abs. 2 AGG eine Entschädigung. Entscheidend war, ob das AGG eine Benachteiligung auf Grund einer ostdeutschen Herkunft untersagt.
Das Arbeitsgericht Stuttgart verneinte für Personen aus Ostdeutschland die Annahme einer Ethnie. Es erkannte zwar, dass die Bezeichnung als „Ossi“ durchaus diskriminierend gemeint sein kann und die Klägerin dies so empfunden hat. Eine Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft liege darin jedoch nicht. Zwar könne das Merkmal „Territorium“ wohl für die Annahme einer Ethnie für Personen mit ostdeutscher Herkunft sprechen. Allerdings fehle es an einer einheitlichen gemeinsamen Sprache, da auch in den ostdeutschen Ländern Dialekte von sächsisch bis hin zu plattdeutsch gesprochen werden. Auch die Annahme einer gemeinsamen Geschichte lag aus Sicht des Arbeitsgerichts Stuttgart fern, da die erst nach 1989 entstandene Bezeichnung „Ossi“ zu jung sei, um seither die Bildung einer abgrenzbaren Population annehmen zu können. Des Weiteren führe auch der Umstand, dass die ehemalige DDR und die Bundesrepublik Deutschland sich seit 1989 unterschiedlich entwickelt haben, nicht zur Annahme einer abgrenzbaren Ethnie. Die gemeinsame Geschichte seit der Abschaffung der Kleinstaaterei, die gemeinsame Kultur der vergangenen 250 Jahre und die gemeinsame Sprache (abgesehen von Dialektunterschieden) machten deutlich, dass weder Bayern noch Schwaben noch „Wessis“ noch „Ossis“ eine eigene Ethnie darstellen können.
Aktuelle Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin
So sah es auch zuletzt auch das Arbeitsgericht Berlin (ArbG Berlin, Urteil vom 15.08.2019 – 44 Ca 85/80/18). Der stellvertretende Ressortleiter eines Zeitungsverlags klagte vor dem Arbeitsgericht Berlin gegen seinen Arbeitgeber auf Entschädigung, Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von EUR 800.000,-. Hintergrund der Klage war eine angebliche Stigmatisierung und Demütigung durch zwei Vorgesetzte aufgrund seiner ostdeutschen Herkunft. Laut Arbeitsgericht Berlin steht dem Arbeitnehmer kein Anspruch auf Entschädigung nach dem AGG zu, da keine Benachteiligung wegen einer ethnischen Herkunft oder Weltanschauung besteht. Auch das Arbeitsgericht Berlin war somit offenbar der Meinung, dass Personen mit ostdeutscher Herkunft keine Ethnie im Sinne des § 1 AGG darstellen können.
Ende der Diskussion?
Fraglich ist, ob dies das Ende der Diskussion ist. Im Hinblick auf die Bewertung einer ostdeutschen ethnischen Herkunft wird man den Entscheidungen der Arbeitsgerichte in Stuttgart und Berlin wohl folgen können. Soweit aber etwa das Arbeitsgericht Stuttgart eine Diskriminierung von Schwaben, Bayern (ausschließlich der im Bundesland siedelnden Franken) oder Friesen wegen deren ethnischer Herkunft ausschließt, scheint dies jedenfalls weniger eindeutig, weisen diese Gruppen doch eine ganze Reihe von Merkmalen einer Ethnie auf: (Relativ) spezifisches Territorium, gemeinsam Geschichte und kulturelle Tradition, Gebräuche und Sitten, gemeinsame Sprache in Form von Dialekten, etc. Welche Blüten die Identifikation mit dieser Herkunft treiben kann, lässt sich mitunter an Wochenenden in den Fußballstadien der Republik miterleben.
Man tut als Arbeitgeber daher gut daran, insbesondere seine Einstellungsentscheidungen nicht davon abhängig zu machen, ob der Bewerber Sachse, Friese oder Schwabe ist, sondern sich – wie sonst auch – von objektiven und sachbezogenen Erwägungen leiten zu lassen. Dann ist man auch hier auf der sicheren Seite.