Hohe Krankenstände bereiten Arbeitgebern große Probleme. Hatten Arbeitgeber in der Vergangenheit Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit, standen sie aufgrund des hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) meist vor unüberwindbaren Schwierigkeiten. Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung geben aber Hoffnung, dem Missbrauch einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit nun wirksam entgegenzutreten zu können. Der folgende Beitrag fasst die Fallgruppen zusammen, in denen die Rechtsprechung den Beweiswert einer AU-Bescheinigung kürzlich für erschüttert erachtete.
Grundsätzliche Erwägungen zum Beweiswert von AU-Bescheinigungen
Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für seine Arbeitsunfähigkeit. Diesen (Anscheins-)Beweis kann der Arbeitnehmer durch Vorlage der AU-Bescheinigung führen. Bezweifelt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit, muss er Tatsachen vortragen, die den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern. Es genügt, wenn der Arbeitgeber Gründe vorträgt, die die Richtigkeit der AU-Bescheinigung ernsthaft infrage stellen. Sind diese Gründe plausibel, obliegt es dem Arbeitnehmer sein Vorbringen zur Arbeitsunfähigkeit zu substantiieren. Die aktuelle Rechtsprechung ist sehr dynamisch. Die folgenden Fallgruppen stellen daher nur einen Zwischenstand dar und sind nicht abschließend.
Keine Entgeltfortzahlung bei „passgenauer“ Krankschreibung
Ausgangspunkt der Rechtsprechungsänderung ist das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 2021 (vgl. BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21). Das BAG entschied, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung bei einem „passend“ mit der Kündigungsfrist abgestimmten Krankheitszeitraum erschüttert werden kann. Im konkreten Fall hatte der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zusammen mit der Übergabe der Kündigung auch eine AU-Bescheinigung vorgelegt, welche den Zeitraum bis zum letzten Tag der Kündigungsfrist abdeckte. Diese zeitliche Koinzidenz reichte dem BAG für eine Erschütterung des Beweiswertes aus. Mit einer Entscheidung vom 18.09.2024 hat das BAG diese Rechtsprechung bestätigt (BAG, Urteil vom 18.09.2024 – 5 AZR 29/24).
„Krank“ bis zum Antritt des neuen Jobs
Mit einem ähnlichen Sachverhalt beschäftigte sich das BAG im Jahr 2023 (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23). Streitgegenständlich war hier, dass der Arbeitnehmer eine AU-Bescheinigung zunächst nur für fünf Tage vorlegte. Nach Vorlage der AU-Bescheinigung kündigte der Arbeitgeber. Daraufhin reichte der Arbeitnehmer zwei Folge-AU-Bescheinigungen ein, die genau auf das Ende des gekündigten Arbeitsverhältnisses fielen. Exakt einen Tag später trat der Arbeitnehmer ein neues Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber an. Nach Ansicht des BAG war der Beweiswert der beiden Folge-AU-Bescheinigungen erschüttert, da seit dem Ausspruch der Kündigung eine zeitliche Koinzidenz zwischen der Kündigung und der Arbeitsunfähigkeit bestanden habe.
Unstimmigkeiten in der AU-Bescheinigung und Krankmeldung nach unliebsamer Arbeitsanweisung sowie Ablehnung eines Urlaubsantrags
In einem Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen führte ein ganzes Bündel von Ursachen zur Erschütterung des Anscheinsbeweises der AU-Bescheinigung (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 31.05.2024 – 14 Sa 618/23). Die Krankmeldung erfolgte in diesem Fall kurz nach der Ablehnung eines Urlaubsantrags und einer unliebsamen Arbeitsanweisung. Außerdem fiel die Krankmeldung passgenau in den Zeitraum vor einem geplanten Segelurlaub, den der Arbeitnehmer aufgrund einer Kündigung zeitgleich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses antrat. Ferner waren die angegebenen Beschwerden des Arbeitnehmers nicht mit den Diagnosen in den AU-Bescheinigungen vereinbar, insbesondere nicht mit dem unspezifischen sog. ICD-Code. Schließlich fehlte eine spezifische ärztliche Diagnose, die gemäß der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AUR) in der im Mai 2023 geltenden Fassung nach sieben Tagen erforderlich gewesen wäre.
Die zu lange Krankschreibung und weitere Fehler in der AU-Bescheinigung
Um ähnliche Verstöße gegen die AUR ging es in einem weiteren Urteil des LAG Niedersachsen (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 18.04.2024 – 6 Sa 416/23). Hier wurde zum einen die Arbeitsunfähigkeit entgegen der AUR über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen bescheinigt, ohne dass eine entsprechende medizinische Notwendigkeit hinreichend dargelegt wurde. Es fehlte an einer konkreten Beschreibung der Intensität und Art der Beschwerden, die eine derart lange Arbeitsunfähigkeit rechtfertigten. Zum anderen hatte der Arbeitnehmer nicht hinreichend konkret vorgetragen, welche spezifischen gesundheitlichen Einschränkungen ihn an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert hätten. Pauschale Behauptungen wie eine Magen-Darm-Infektion reichten nicht aus, um die Arbeitsunfähigkeit schlüssig darzulegen.
Facharzt nicht aufgesucht – Medikamente nicht eingenommen
Auch das LAG Mecklenburg-Vorpommern (vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 07.05.2024 – 5 Sa 98/23) hat in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung wichtige Indizien aufgestellt. In dem Fall deckten die Folge-AU-Bescheinigungen des gekündigten Arbeitnehmers nicht nur den gesamten Zeitraum der Kündigungsfrist ab, sondern gingen sogar darüber hinaus. Dennoch trat der Arbeitnehmer aber schon unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Stelle an und suchte entgegen dem ärztlichen Rat weder einen Facharzt auf, noch besorgte er sich die verschriebenen Medikamente. Keinen Termin beim Psychologen erhalten und aufgrund der Nebenwirkungen auf die Einnahme eines Medikamentes verzichtet zu haben, reichten dem LAG für eine Substantiierung der Arbeitsunfähigkeit nicht aus. Dies deute im Gegenteil auf einen allenfalls geringen Leidensdruck des Arbeitnehmers hin.
Genesungswidriges Verhalten
Nichts grundlegend Neues aber dennoch wichtige Anhaltspunkte bietet die Fallgruppe des sog. genesungswidrigen Verhaltens, bei dem das Verhalten des Arbeitnehmers der Genesung der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit zuwiderläuft. Zuletzt beschäftigte sich u.a. das LAG Berlin-Brandenburg (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.07.2024 – 12 Sa 1266/23) mit einer solchen Fallkonstellation. In der Entscheidung nahm der krankgeschriebene Arbeitnehmer als Spieler und Schiedsrichter an Handballspielen teil. Dies war für das LAG ausreichend, um den Beweiswert der AU-Bescheinigung als erschüttert anzusehen.
Fazit
Die verschiedenen Fallgruppen zeigen, wie unterschiedlich die Fälle im Hinblick auf den Beweiswert der AU-Bescheinigung sein können. Sie machen auch deutlich, dass aufgrund der Detailtiefe die Einholung anwaltlichen Rats zu empfehlen ist. Dies gilt umso mehr, da stets eine Einzelfallbetrachtung unter Würdigung aller Gesamtumstände vorzunehmen ist, um die Forderung nach einbehaltenem Arbeitsentgelt erfolgreich abwehren zu können bzw. entsprechend zu viel gezahltes Entgelt zurückzufordern. Erfreulicherweise nehmen die Gerichte die Beweiskraft der AU-Bescheinigung bei Auffälligkeiten nicht mehr unwidersprochen hin und helfen somit einem Missbrauch wirksam entgegenzuwirken.
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