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Der EuGH und die Arbeitszeiterfassung – Gedanken aus Compliance-Sicht

Juni 2019

Lesedauer: Min

Spätestens seit der Entscheidung des EuGH (Urt. v. 14.05.2019 - C-55/18 Nationaler Gerichtshof - Spanien) rückt die arbeitszeitrechtliche Compliance (wieder) verstärkt in den Fokus.

Hintergrund der Entscheidung

Eine spanische Gewerkschaft beantragte in einem in Spanien geführten gerichtlichen Verfahren die Feststellung, dass die Deutsche Bank SAE verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Das spanische Oberste Gericht kam zu dem Ergebnis, das spanische Recht verpflichte Arbeitgeber lediglich, die von Arbeitnehmern geleisteten Überstunden aufzuzeichnen und die Aufstellung am jeweiligen Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter zu übermitteln. Der spanische Nationale Gerichtshof zweifelte die Auslegung des nationalen Rechts durch das Oberste Gericht mit dem Unionsrecht an und rief den EuGH in einem sog. Vorabentscheidungsverfahren an.

Der EuGH kam in diesem Verfahren zu dem Ergebnis, dass die bloße Pflicht zur Aufzeichnung von Überstunden nach spanischem Recht nicht ausreichend sei. Vielmehr obliege es den Mitgliedstaaten ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Die Form und die konkreten Modalitäten des Systems seien durch die Mitgliedstaaten festzulegen. Dabei könnten sie die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs und die Eigenheiten bestimmter Unternehmen (namentlich deren Größe) berücksichtigen. Zudem könnten die Mitgliedstaaten unter Beachtung der Schutzzwecke des Unionsrechts Ausnahmen von der Arbeitszeitrichtlinie regeln, z.B. wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.

Einordnung dieser Entscheidung in das deutsche Recht

Der EuGH kommt zu diesem Ergebnis durch eine Auslegung des europäischen Arbeitsschutzrechts, konkret der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 sowie der Richtlinie 89/331 über die Gewährung und Verbesserung des Arbeitsschutzes sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Danach haben Arbeitnehmer u.a. das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Die Entscheidung betraf damit allein das öffentliche Arbeitszeitrecht, nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) hingegen die Frage, ob ein durch ein solches Arbeitszeiterfassungssystem erfasste und damit »sichtbar« gewordene Arbeitszeit auch zu vergüten ist. Letztere Frage richtet sich nach den arbeits- und tarifvertraglichen Regelungen. Deren Gestaltung wird nunmehr verstärkt in den Fokus von Unternehmen rücken müssen. Hierzu gehört u.a. die Frage, was vergütungspflichtige Arbeitszeit ist (z.B. Dienstreisen), ob und wie Mehrarbeit vergütet wird, die Gestaltung von Verfallklauseln und die Überprüfung von Arbeitszeitkonten. 

Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit nach derzeit geltendem Recht

Im Hinblick auf die Erfassung der Arbeitszeit bestehen für Unternehmen, unabhängig von der Umsetzung der Entscheidung des EuGH, bereits jetzt umfangreiche Pflichten. Unternehmen sind verpflichtet, die über die werktäglich von 8 Stunden hinausgehende Arbeitszeit zu erfassen (§ 16 Abs. 2 ArbZG). Diese Aufzeichnung soll es den Arbeitsschutzbehörden ermöglichen zu überprüfen, ob (i) die Ausgleichszeiträume nach § 3 S. 2 ArbZG, (ii) die Höchstarbeitszeiten nach  § 3 S. 1 ArbZG sowie (iii) die Ruhezeiten nach § 5 ArbZG eingehalten werden. Darüber hinaus sind Unternehmen verpflichtet, die Arbeitszeit (auch Beginn und Ende) von Kraftfahrern (§ 21a ArbZG) sowie von geringfügig Beschäftigten (§ 17 MiLoG) aufzuzeichnen. Verstöße gegen das ArbZG, also auch die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit, stellen dabei eine Ordnungswidrigkeit dar und können mit einer Geldbuße bis zu EUR 15.000,- geahndet werden (§ 22 Abs. 1 Ziffer 9 ArbZG). Strafbewehrt ist ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht nicht, da § 22 Abs. 1 Ziffer 9 ArbZG nicht in der Strafvorschrift des § 23 ArbZG genannt wird. Zudem kommt neben der Verhängung einer Geldbuße auch eine Einziehung des durch den Verstoß gegen das ArbZG erlangten wirtschaftlichen Vorteils in Betracht, § 29a OWiG. Die Arbeitsschutzbehörden können zudem bei festgestellten Verstößen gegen die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit nach § 16 Abs. 2 ArbZG Anordnungen nach § 17 Abs. 2 ArbZG treffen, um Arbeitgeber zur Einhaltung der Aufzeichnungspflicht zu verpflichten. Eine solche Anordnung kann beispielsweise auch in einer Verpflichtung bestehen, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu erfassen (VGH München, Beschl. v. 26.10.2011, 22 CS 11.1989).

Exkurs: Die Rolle des Betriebsrats

Der EuGH hat zudem ausdrücklich festgehalten, dass ein System, durch das der Arbeitgeber zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit verpflichtet wird, erforderlich ist, damit die Arbeitnehmervertreter ihr im Zusammenhang mit der Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen des Arbeitsschutzes bestehenden Pflichten ausüben können. Dies ist nicht neu. Schon im Jahr 2003 hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass Betriebsräte über ihren Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BetrVG den Arbeitgeber dazu verpflichten können, ihnen Auskunft über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu erteilen und zwar auch dann, wenn Arbeitgeber auf die Erfassung der Arbeitszeit verzichten, z.B. in Modellen einer sog. Vertrauensarbeitszeit (BAG, Beschluss v. 06.05.2003, 1 ABR 13/02). Es ist daher zu erwarten, dass Betriebsräte zukünftig verstärkt von diesem Auskunftsanspruch Gebrauch machen werden, bis es zu einer gesetzlichen Neuregelung zur Arbeitszeiterfassung kommt. 

Was bedeutet diese Entscheidung für Unternehmen aus strafrechtlicher Sicht?

Die Entscheidung des EuGH erging in einem Vorabentscheidungsverfahren und richtet sich zunächst an die Mitgliedstaaten, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu schaffen. In der juristischen Literatur und auch der Politik wird bereits jetzt kontrovers die Frage diskutiert, ob der deutsche Gesetzgeber überhaupt verpflichtet ist, aktiv zu werden, weil eine europarechtskonforme Auslegung der Regelungen des ArbZG möglich ist. Diese Diskussion kann im Rahmen dieses Blogs nicht vertieft werden. Wir möchten den Blickwinkel daher im Folgenden auf die Frage werfen, ob und wie die Entscheidung des EuGH bereits jetzt durch Behörden und Gerichte anzuwenden ist und inwieweit dies zu erhöhten Risiken einer Ordnungswidrigkeit oder Strafbarkeit führen kann.

Der EuGH hat in der Entscheidung ferner festgehalten, dass die nationalen Gerichte und Behörden zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Hierbei müssen sie sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der europäischen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht wird. Gerichte und Behörden sind damit bereits jetzt unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH zu einer richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Rechts, insb. § 16 Abs. 2 ArbZG und § 17 Abs. 2 ArbZG verpflichtet. Vor diesem Hintergrund wird bereits jetzt diskutiert, § 16 Abs. 2 ArbZG  unionrechtskonform dahingehend auszulegen, dass alle Arbeitszeit aufzuzeichnen seien und zwar von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit. Denn ohne deren Dokumentation könne gar nicht bestimmt werden, inwieweit die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden überschritten wird und ob auch Pausen- und Ruhenszeiten eingehalten werden. Kommt man zu einer solchen Auslegung, stellt sich gleichzeitig die Frage, ob eine Nichterfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit dann auch als bußgeldbewehrte nach § 22 Abs. 1 Nr. 9 ArbZG zu sehen ist.

Eine solche Auslegung steht erkennbar im Spannungsverhältnis zu Grundprinzipien des deutschen Strafrechts. Nach Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB gilt das verfassungsrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip, wonach es Strafen oder Bußgelder ohne Gesetz nicht geben kann (»nulla poena sine lege«). Einerseits wird durch eine europarechtskonforme Auslegung der bereits jetzt bestehenden Bestimmungen des nationalen Rechts (§ 16 Abs. 2 ArbZG, § 22 Abs. 1 Nr. 9 ArbZG) kein neuer Bußgeldtatbestand geschaffen, sondern nur bereits bestehende gesetzliche Pflichten in der Bedeutung ihrer Tatbestandsmerkmale (Erfassung der täglichen Arbeitszeit) durch den EuGH konkretisiert. Dies wäre verfassungsrechtlich zulässig. Auf der einen Seite ist allerdings zu berücksichtigen, dass weder das deutsche noch das europäische Arbeitszeit- und Arbeitsschutzrecht eine für alle Unternehmen und Arbeitnehmergruppen gesetzlich ausdrücklich normierte Pflicht für die Erfassung der täglichen Arbeitszeit vorsehen. Eine solche wurde in der bisherigen Praxis – auch im Bereich der arbeitszeitbezogenen Ordnungswidrigkeiten – nicht angenommen. Diese Erfassungspflicht »liest« der EuGH aus eine Gesamtschau der europäischen Richtlinien zum Arbeitsschutz und der Europäischen Grundrechtscharta heraus. Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis man kommt, wird man Unternehmen jedenfalls für die Vergangenheit, also den Zeitpunkt bis zu der Entscheidung des EuGH, keinen Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsvorwurf machen können. Denn die gesetzlichen Bestimmungen des deutschen Rechts sehen – allein vom Wortlaut - keine generelle Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit vor. Etwas anderes kann zukünftig aber dann gelten, wenn man § 16 Abs. 2 ArbZG unionsrechtskonform – erweiternd – ausgelegt. Man darf auf die ersten gerichtlichen Entscheidungen gespannt sein.

Welcher Umsetzungsbedarf besteht bereits jetzt?

Die arbeitsschutz- und arbeitszeitrechtliche Compliance fristet in vielen Unternehmen derzeit noch ein Schattendasein. Dies wird sich durch die Entscheidung des EuGH ändern (müssen), da dieses Thema nun auch verstärkt in den Fokus der Aufsichtsbehörden rückt. Die Einhaltung der Bestimmungen des Arbeitsschutzes und insbesondere auch des Arbeitszeitrechts sind (nicht erst seit der Entscheidung des EuGH) Bestandteil eines guten Compliance Management Systems. 

Ordnungswidrigkeit- und Strafverfahren wegen Verstößen gegen das ArbZG sind derzeit in der Praxis noch Recht selten anzutreffen. Dies liegt nach der Erfahrung der Autoren im Wesentlichen daran, dass die Aufsichtsbehörden nicht über die ausreichenden personellen Mittel verfügen, Verstöße konsequent aufzuklären und diesen nachzugehen. Dies sollte Unternehmen aber nicht davon abhalten, ihre Arbeitszeitsysteme insbesondere auch vor möglichen Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren zu überprüfen und sich – soweit noch nicht vorhanden - jedenfalls die die tägliche Arbeitszeit von acht Arbeitsstunden pro Tag überschreitende Arbeitszeiten zu erfassen. Hierbei handelt es sich um eine eigene (Organisations-)pflicht des Arbeitgebers. Ob er diese Pflicht zukünftig noch auf den Arbeitnehmer delegieren kann, ist nach der Entscheidung des EuGH ebenfalls unklar. Folgende Maßnahmen bieten sich in unter Berücksichtigung der Pflichten §§ 130, 30 OWiG an:

  • Überprüfung der bestehenden Arbeitszeitsysteme dahingehend, ob und welche Arbeitszeiten erfasst werden und ob diese Systeme in Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen stehen (z.B. Schichtmodelle, Sonntagsarbeit aber auch betriebliche Regelungen zu ortsungebundenem Arbeiten).

  • Information der Mitarbeiter in geeigneter Weise über die Rechte und Pflichten nach dem ArbZG und Aushang des ArbZG.

  • (Kurz-)schulung der Führungskräfte über die Rechte und Pflichten nach dem ArbZG und der Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeit sowie Dokumentation der durchgeführten Schulungen.

  • Ggf. Anpassung der Arbeitszeiterfassungssysteme, jedenfalls aber Einführung einer Erfassung der die werktäglich acht Arbeitsstunden überschreitende Arbeitszeit.

  • Einführung eines Kontrollsystems, mit dem die Einhaltung der Bestimmungen des ArbZG überwacht wird. Wie in Compliance-Systemen üblich, sollte dieses System sowohl regelmäßige Kontrollen mit ad hoc Meldepflichten der Führungskräfte enthalten, als auch Stichproben.

  • Bei festgestellten Verstößen gegen das ArbZG sollten die Führungskräfte hierauf durch die Geschäftsführung hingewiesen und etwaige Maßnahmen zur zukünftigen Vermeidung von Verstößen nachgehalten werden (z.B. bei Verstößen gegen Pausenzeiten).

  • Berücksichtigung etwaiger Beteiligungsrechte der Arbeitnehmervertretungen.

Ein Beitrag von Dr. Sebastian Maiß, vangard und Dr. Matthias Brockhaus, VBB Rechtsanwälte