Arbeitsrechtlicher Status der Kuriere in Deutschland und den europäischen Nachbarstaaten
Sie sind die Profiteure der Corona-Pandemie und aus dem Straßenbild deutscher Großstädte mittlerweile nicht mehr wegzudenken: Fahrradkuriere der Essenslieferdienste Lieferando & Co. Flexible und selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung, gute Bezahlung und einen Job an der frischen Luft – mit diesen Versprechen wirbt etwa Lieferando um neue Kuriere. Benötigt wird neben einem Fahrrad lediglich ein Smartphone, auf dem die Kuriere eine bereitgestellte App installieren. Doch wie sieht es eigentlich mit dem arbeitsrechtlichen Status der Fahrradkuriere aus?
Schlagworte wie selbstbestimmte Arbeitseinteilung signalisieren bereits: Zahlreiche Plattformen sehen ihre Fahrradkuriere nicht als abhängig Beschäftigte, sondern als Selbständige an. Begründung: Die Kuriere brächten ihre essenziellen Arbeitsmittel – Fahrrad und Smartphone – selbst ein. Sie könnten zudem Aufträge ablehnen oder sich jederzeit durch Dritte vertreten lassen. Dieser Logik folgend sind etwa die für Uber Eats oder Deliveroo fahrenden Kuriere in den meisten europäischen Nachbarstaaten auf Grundlage freier Dienstverträge selbstständig tätig.
In Deutschland ist die Situation dagegen anders: Nachdem sich Deliveroo im Jahr 2019 aus dem deutschen Markt zurückgezogen hat, ist Lieferando als einziger „big player“ verblieben und beschäftigt seine Kuriere hierzulande auf Grundlage von Arbeitsverträgen. Gleichwohl führen die Plattformen die vorgenannten Argumente – eigene Arbeitsmittel sowie das Recht, Aufträge abzulehnen oder sich durch Dritte vertreten zu lassen – regelmäßig gegen den Arbeitnehmerstatus der von ihnen eingesetzten Fahrradkuriere an. Zurecht?
Größtes Hindernis für die Annahme einer Arbeitnehmereigenschaft ist das den Kurieren oftmals eingeräumte generelle Vertretungsrecht durch Dritte. Denn es steht dem in § 613 BGB kodifizierten Grundsatz der höchstpersönlichen Leistungspflicht entgegen. Allerdings ändert die Einräumung eines derartigen Vertretungsrechts nichts am Arbeitnehmerstatus, wenn die persönliche Leistungserbringung die Regel ist und die Leistungserbringung durch den Dritten eine das Gesamtbild der Tätigkeit nicht nennenswert verändernde Ausnahme darstellt (LAG Niedersachsen – 7 Sa 1192/98). Eine Vertretung durch Dritte dürfte im hart umkämpften „food delivery business“ bereits aufgrund des geringen Vergütungsniveaus für die meisten Kuriere keine ernsthafte Alternative darstellen. Auch der Einsatz eigener Arbeitsmittel wie Fahrrad und Smartphone reicht zur Annahme der Selbstständigkeit nicht aus. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (5 AZR 653/96) ist vielmehr entscheidend, ob der Einsatz der eigenen Arbeitsmittel dem Eigentümer die Möglichkeit eröffnet, seine Tätigkeit im Wesentlichen frei zu gestalten. Und an dieser Stelle rückt das appbasierte Vergabe- und Bewertungssystem in den Vordergrund.
Die App als digitaler Chef
Einmal angemeldet, bestimmt die App mit dem Algorithmus im Hintergrund den Beschäftigungsalltag. Jeder Arbeitsschritt – vom Eingang der Bestellung über die Abholung der Speisen bis zur Ablieferung beim Kunden – wird durch die App sekundengenau aufgezeichnet. Während der Ausführung eines Auftrags zeichnet die App zahlreiche Daten auf, darunter die durchschnittliche Geschwindigkeit des jeweiligen Kuriers und die Anzahl der ausgefahrenen Bestellungen pro Stunde. Bonuszahlungen oder lukrativere Aufträge – etwa in der Mittags- oder Abendzeit – gibt es erst ab einer bestimmten Anzahl ausgeführter Aufträge. Das durch die App vermittelte Kontrollniveau ersetzt die üblicherweise durch den Arbeitgeber mündlich oder schriftlich erfolgenden Arbeitsanweisungen – kurzum: die App fungiert als digitaler Chef. Der durch das Bewertungs- und Bonussystem vermittelte Zwang führt dazu, dass der Kurier tatsächlich keine realistische Wahlmöglichkeit hat, wann und wo er arbeiten oder wie schnell oder langsam er liefern möchte. Seine Tätigkeit wird im Sinne der Plattform fremdbestimmt. Bereits im „analogen“ Zeitalter hat das Bundesarbeitsgericht (5 AZR 312/96) angenommen, dass bei einfachen Auslieferungstätigkeiten mit nur geringen Gestaltungsmöglichkeiten die Zuweisung eines bestimmten Auslieferungsgebiets sowie eines zeitlichen Rahmens regelmäßig für die Annahme der Weisungsgebundenheit ausreiche. Legt man also die von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäbe an, führt kein Weg an einer Qualifizierung der Kuriere als Arbeitnehmer vorbei. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Sichtweise in seiner Entscheidung vom 01. Dezember 2020 (9 AZR 102/20) bestärkt und erstmals die Arbeitnehmereigenschaft von Crowdworkern – wozu auch die Kurierfahrer zählen – angenommen.
Fazit:
Appbasierte oder sonstige digitale Bewertungssysteme nehmen eine immer größere Rolle ein. Das Beispiel der Kurierfahrer zeigt, dass die Grenzen zwischen fremdbestimmter Arbeit und nicht weisungsgebundenen selbstständigen Tätigkeiten dabei verschwimmen können. Nicht nur – aber besonders für – Betreiber entsprechender Onlineplattformen wie Lieferando rückt daher eine eindeutige Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses in den Vordergrund. Eine Behandlung als selbständiger Auftragnehmer ist insbesondere wohl dann ausgeschlossen, wenn die Verteilung der Aufträge sowie die Vergütungshöhe an die Art und Dauer der Arbeitsausführung gekoppelt sind.